STADT-SZENE
VON BRUNO SCHLÜTER
Thalkirchener Straße, Arbeitsamt: ein Backsteingebäude, labyrinthisch, ein Haus, das nicht im Baedeker steht. Freiwillig tritt hier niemand ein. Man duckt sich zusammen, wird unwillkürlich kleiner.
Nur der Pförtner steht aufrecht, mit stolz geschwellter Brust. Dennoch ist er überflüssig. Er lächelt, als wisse er um das Nutzlose seiner Funktion, als ahne er, daß sich seine Hilfe nicht auszahlt: Der Neuling verirrt sich sowieso, und der Dauergast kennt seine Tür, nachdem er falsche Pforten oft genug geöffnet hat.
Hier leuchtet München nicht. Ein Tourist, auf der Suche nach dem Ungewöhnlichen, käme nur mit Mühe wieder hinaus. Man biegt ein auf die Gänge, diese endlosen Schneisen, sieht das Gewimmel, aber das Auge fällt sogleich auf die Bänke an den Seiten. Hier sitzen die Arbeitslosen wie aufgereiht, wie Hühner auf einer Stange. Sie starren so lange auf die Türen, bis ein Beamtenkopf hervorlugt, der einen Namen aufruft. jeder scheint auf diesen Namen zu hören, springt auf. Der Beamte ist das gewohnt. Mit dieser Stimme, die sich vom übrigen Kopf getrennt zu haben scheint, hat er vielleicht fünfzig, vielleicht hundertmal etwas mitgeteilt, das das Ende aller Hoffnung bedeuten kann. Deshalb schnarrt die Stimme wie die aus dem Lautsprecher in der Meldestelle, diese sachliche Stimme, die noch viel öfter sagen muß: »Herr Meier, bitte in Zimmer B!« Dann leuchtet ein Licht vor Zimmer B auf, und Herr Meier springt auf, mit einer Geschwindigkeit, die niemand seinen schlaffen Gliedern zugetraut hätte. Er wird Geld erhalten, er darf hoffen. Aber wie lange?
Nach einigen Monaten in München habe ich mich an diese Amtsflure, ihre auffallende Ähnlichkeit, gewöhnt, auch daran, daß ich mich im Kreis zu drehen scheine. Aber ich habe Vertrauen in diese Stadt, mir dieses Domizil gewünscht. Das Amt ist nur ein kleiner Ausschnitt, sage ich mir. Gerade ein Arbeitsloser kann schöpferisch sein. Er hat mehr Zeit, alles zu entdecken. Laß nur diese Stadt erst in Ruhe auf dich wirken! rede ich mir zu.
Ich habe Glück gehabt, eine Wohnung in Schwabing gefunden, aus der Ferne und telefonisch. Wonach sich der Mensch sehnt, hängt auch davon ab, wo und wie er gelebt hat. Ich kam aus einer rheinischen Industriestadt. In einer grauen Stadt wird auch das Leben grau. München, das war eine Aura, etwas Prickelndes. Es gab Vorstellungen, Phantasien. Außerdem war ich oft in München gewesen, als Reisender. Die Umgebung stimmte mich heiter. Die Seen, die Berge. Städtisches mit Dorfcharakter. Das Gewachsene. Hier, so dachte ich, könntest du leben.
Dennoch: Dieses Backsteingrau, diese trostlosen Augen ernüchtern. Das kennst du doch, denke ich. So schauten sie aus, die Türken in den Schnellquartieren dieser Kölner Riesenkaserne. Du hast mit ihnen gesprochen, über sie geschrieben, hast geglaubt, mit ihnen vertraut zu sein, dich nicht zu ihnen herabzulassen mit der lässigen Allüre des Reporters. Statistiken haben dich nie interessiert. Und doch: Was in den Menschen ohne Hoffnung vorgeht – hast du das geahnt? Fein wolltest du raus sein mit deiner Idee von München im Sonntagsstaat, und nun bist du verwirrt, weil du das nicht erwartet hast.
Der Kitzel, das Lockende Münchens, ist nur ein Teil der Wirklichkeit. Immerhin wird mir das noch bewußt. Also muß ich mit dem Blick weiter unter die Oberfläche dringen. Ich beginne über mein früheres Traumbild von dieser Stadt zu lächeln: Kranz der Wälder, der das Herz erfrischt, Leben als besondere Kunst, in München besser beherrscht als in Preußen – von Schöngeistern und Schmeißfliegen, Zug’reisten und Waschechten, Etablierten und Naiven. Alles Legende! Dennoch: Fortwährend lese ich von Vergangenem, von geblümten Tapeten in Weiß-Blau, seidenbezogenen Sesseln und Diwanen. Ich tauche ein in Geschichte, ob ich will oder nicht, der Sesam öffnet sich, weich lande ich auf Plüsch. Der »Münchner Stadt-Anzeiger«, ein weiß-blauer Almanach, preist »fashionable Kaffeehäuser«, der »Playboy« historisch Stimulierendes für Gentlemen.
Ich will dem Zufall, der nächsten Umgebung trauen. Ein abendlicher Sog zieht mich ins »Café Alt-Schwabing«in der Schellingstraße. Stuck und Spiegel alt, Servierdamen jung. Nein, sie können Thomas Mann, Wedekind und Ringelnatz, die hier laut Speisekarte einst ihren Mokka schlürften, nicht bedient haben. Aber woher kenne ich die Damen nur? Ich schlage die »Abendzeitung« auf, und schon blicken sie mir entgegen. In der Serie »Cafés zum Kennenlernen« werden sie ausdrücklich gelobt. Haben alle, die hier sitzen, das Blatt heute gelesen? Das wäre mir peinlich. Angestrengt blicke ich auf das Hündchen, das Männchen macht für ein Tortenstück. Im »Café Monopteros« sollen sogar Hunde Beziehungen stiften, laut »Abendzeitung« natürlich, und von der »Oase« in der Amalienpassage weiß ich, daß die Köter hier besonders laut kläffen, Kinder mit Lolli im Schlepptau: Gerade wird ein Student gebeten, seinen Mercedes wegzufahren, da er eine Einfahrt blockiere. Ich fliehe.
Im Sommer sitze ich abends am offenen Fenster, denke an den Inhaber eines Cafés mit Mittagstisch im Bahnhofsviertel. Weil ich an einem der Tische etwas geschrieben hatte, verwies er mich barsch des Feldes. Wo ich schreibe, dort setze sich sonst niemand mehr hin, hatte er behauptet. Von draußen, dem kleinen Biergarten an der Adalbertstraße, dringt munteres Lachen an mein Ohr, dazwischen eine Kommandostimme: »Magda! – Franz!« Jemand drinnen an der Sprechanlage befiehlt, bringt Bedienstete auf Trab – rein, raus, raus, rein!
Ich spüre: Ich verändere mich. Das, was mir weh tat in dieser Stadt, ihr Widersprüchliches, beginnt mich zu reizen. Ich fahre hinaus nach Neuperlach, durchwandere die Trabantenstadt. An einem der Hochhäuser drücke ich auf einen Klingelknopf, fahre hinauf im Aufzug bis zum obersten Stock. Die Skyline, umrißhaft, Monumente im Nebel, aber das Häßliche ganz nah. Von hier sieht München aus wie Dortmund oder Hamburg, aber das ist jetzt fast beruhigend.
»Hallo!« ruft es hinter mir. »Zu wem wollen Sie?« Es klingt westfälisch. Aber über die mißtrauischen Augen erschrecke ich. Dabei sind sie doch ganz natürlich, »Wen suchen Sie denn?
Es fällt mir nichts ein. Ich stottere herum: »Verzeihung, wollte nur mal die Aussicht genießen.«
Sie glaubt kein Wort. »Nun machen Sie aber schleunigst, daß Sie hier fortkommen!«
Ich durchstreife den Englischen Garten: Ein Polizist zu Pferd, mit Funksprechgerät: Er überblickt die Szene. Wen überwacht er? Wovor schützt er? Damen füttern Schwäne, Jogger durcheilen die Flur. Der Polizist benutzt sein Gerät. Es klingt wie ein Geheimbericht. Am Chinesischen Turm schmettert die Kapelle vom Oberdeck »Alte Kameraden«. Ich habe Lektüre mitgenommen, suche Zuflucht auf einer Bank. Aber ich errege Neugier. Ein Mädchen setzt sich zu mir. »Würden Sie mir etwas vorlesen?« Ich zögere, bin erstaunt. Die Kapelle hat ausgesetzt. Wortlos mustere ich sie, spüre: Sie meint es ernst. Ich lese, Delius, »Ein Held der inneren Sicherheit«. Es paßt. Seite 112: » … wird ein jeder Feind gestellt. Zum erstenmal fiel Diehl diese Formulierung auf, ein jeder … «
Sie lächelt, unterbricht mich, hält plötzlich einen Kassettenrecorder in der Hand. »Es ist nur ein Test«, sagt sie. »Die meisten können Fremden so unvermittelt nichts vorlesen. Sie sind eine Ausnahme.« Sie ist Mitarbeiterin beim Bayernfunk, spürt Leute auf, die auf öffentlichen Bänken Bücher lesen. Unser Gespräch habe sie aufgenommen. Ob sie es verwenden könne. ja, natürlich.
Ich beginne, mich für meine Nachbarn auf Bänken zu interessieren. Die wenigsten lesen Bücher. Manche stricken. Viele genießen nur die Sonne. An belebten Plätzen kommt es neuerdings vor, daß welche, in mancher Augen etwas nachlässig gekleidet, nicht nur eine Mütze hinhalten, sondern auch ein Schild umgehängt haben – als könne es nur so glaubwürdig sein, daß sie arm sind. Der »SZ« ist es, weil ungewohnt, sogar ein Streiflicht wert. Ich lese daraus die Frage ab: Wenn es denn wahr ist, warum nur so aufdringlich? Vielleicht hätte der Schildträger Auskunft geben können…
Die Zahl derer, die ihre Lage – nicht nur Armut – ausstellen, wächst. Manchmal wünsche ich mir ein Gespräch mit ihnen. Aber es fällt wirklich schwer, jemanden anzureden, einfach so. Tritt so die eigene Armut zutage?
Seltsam: Ein paar Tage später werde ich wieder angesprochen, diesmal im Hofgarten. Auf Abbildungen soll ich schmucke Uhren von Tinne unterscheiden. »Welches Design halten Sie für gestohlen?« Ich gebe mir Mühe, aber ich vermag es nicht zu sagen. Der junge Mann ist Student, interviewt in den Semesterferien. Er erhält Honorar, aber viel zu wenig. Allmählich tauschen wir die Rollen. Der Interviewer wird zum Interviewten. Für uns beide ist es wie erlösend. Die Raster fallen. Wir erzählen unser Leben, sind beide glücklich dabei. So etwas sei heutzutage selten, sagt er.
***
(Wird fortgesetzt)