Mein Ich ist ein Anachronismus. Ich gestehe es. Ich bin weder das Ich noch das Du noch das Wir. Erst in dem Moment, indem ich mein Ich auflöse, beginne ich mich so anzunehmen wie ich bin. Ein Liebender kann nicht anders. Solange ich meiner Grenzen beharre, wirst Du mich nicht einlassen.
Mein Ich kann ich manchmal nicht verstehen. In den Momenten, in denen ich aufhöre, ein Ich zu sein, fühle ich mich glücklich. Etwas taucht in einen Raum, der es ermöglicht, jenseits der Zeit zu sein. Am Anfang dieses Zustandes, der für mich eine Gelegenheit bedeutete, wusste ich nicht, dass es ein Experiment ist, das gefährlich sein könnte. Es wäre besser, die Zeit zu begrenzen, auf ein kleines Minimum. Aber ich wollte das nicht, denn es gab zu viele Konstellationen, die ich als ungünstig empfand, um menschlich sein zu können.
Ich habe es immer geliebt, eins sein zu können. In diesen wenigen Momenten, in denen ich es schaffen konnte, brauchte ich immer das Gefühl, jenseits von anderen Menschen zu sein, jedenfalls von den meisten. Da, wo die Natur Natur sein konnte, und manchmal war es nur die Abwesenheit von Menschen, fühlte ich mich eins mit dem was ist. Freiheit begann am Ende des Dorfes.
Der Untergrund ließ es mich spüren. Ein Sandweg vermittelte mir eine Ahnung, auch wenn ein Indianer es nicht so verstehen würde. Dort, wo ich die Steinwege verlassen konnte, um mein kleines Paradies auf einem Waldweg zu betreten, war ich sicher. Sicher vor einer Welt, die sich ausdehnte, und wie es mir schien, konnte ich diese Bewegung eigentlich kaum als Bewegung wahrnehmen. Es war eine Feindlichkeit, vor der ich floh, ohne behaupten zu wollen, dass das Feindliche feindlich und dass das Fliehen eine Flucht war.
Ich nahm es eher so wahr, dass ich meinen Impulsen folgte. In diese Welt nahm ich niemanden mit, solange ich die innere Grenze zum jungen Mann nicht überschritten hatte. Aber auch dann geschah es nur selten. Das Leben war so, es bot sich so an, als beste Lösung, nicht um auszugrenzen, sondern weil mir Möglichkeiten genommen wurden, auch wenn es keine Dekrete für die Isolation gab. Die Menschen meines Dorfes konnten nicht dabei sein, weil sie in anderen Welten lebten.
Natur. Manchmal war es nur die Abwesenheit von Menschen. Freiheit begann am Ende des Dorfes.
Das klingt sehr komisch, aber wenn Du zur Schule gehst, jedenfalls zu meiner Zeit, dann bleibt einem nichts anderes übrig zu lernen mit einem Umstand umzugehen, dass die anderen Menschen, die eigentlich eine kleine Gemeinschaft bilden könnten, nicht zusammen sind. Der eine besucht eine andere Schule, die andere ebenfalls und eine weitere musste das Dorf verlassen, weil ihre Eltern es so wollten. Andere Kinder reisten mit ihren Eltern von Ort zu Ort.
Es gab noch mehr Kinder in unserem Dorf. Die Möglichkeiten, die sich anboten, nahm ich wahr, so gut ich es konnte und soweit es möglich war. Doch das Leben, das ich auf dem Gymnasium verbrachte, schenkte mir wenige Freiräume; ich bemerkte, dass ich nicht einmal die Zeit hatte, meine Hausaufgaben zu bebildern. Das erste Mal, als ich es tat, war eine Wohltat. Ich zeichnete und malte Ansichten von Haselnüssen in mein Biologieheft. Ich liebte das Gestalten, und es schien ein Schlüssel zu meinem Glück zu sein. Einmal tat ich es und es war wundervoll, die Zeit zu vergessen und das Gelingen in der Entwicklung und im Ergebnis zu sehen.
Ich glaubte niemanden zu haben, um darüber reden zu können. Um mein Pensum Arbeit schaffen zu können, lernte ich, einen Überblick über die Aufgaben zu bekommen und stellte fest, dass ich mich beschneiden musste, wenn ich alles schaffen wollte, was ich schaffen musste. Es war ein intuitives Ausrichten, obwohl es sich in Frage stellen lässt, ob Anpassung etwas mit wirklicher Intuition zu tun hat. Ich brauchte Zeit für den Wald und ich brauchte Zeit für das Spielen.
Wenn ich im Wald war, dann war es das Natürlichste auf der Welt, spontan loslassen zu können. Die Füße sagten es mir, die Augen und das Herz. Meine Nase konnte riechen, mein Kopf hörte auf, Gedanken zu bewegen, die nicht meine waren. Sogar das Gefühl der Angst und das Gefühl des Zwangs verschwanden. Solange ich im Wald war, konnte ich entdecken. Eines Tages wurde mir klar, dass es eine Lüge sein musste, wenn jemand behauptete, dass er die Welt gesehen habe.
„Um nur einen kleinen Wald zu kennen, brauche ich viele Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre. Und selbst dann kenne ich ihn nicht. Das wiederum lässt darauf schließen, dass ich niemals die ganze Welt kennenlernen kann.“ Das stellte ich fest, als ich vierzehn war. Es war vielleicht ein Gedankenblitz, vielleicht eine Denkleistung, die nur zustandekommt, wenn ein Mensch nicht denkt. Das Wir, in dem ich mich wohlgefühlt habe – und dessen Teil ich geworden bin – schenkte mir die Ansicht.
Ich zeichnete und malte, und es schien ein Schlüssel zu meinem Glück zu sein.
In jener Zeit war ich kein Ich. Ich war ein flüchtiges Wesen, das in der Rolle als Schüler und als Kind nicht wirklich glücklich war, weil ich mich mit jenem Leben nicht identifizieren konnte. Ich war nicht das Wir, jedenfalls nicht ab einem bestimmten Zeitpunkt. Ich hörte auf, wenn ich glücklich sein wollte, Teil der Familie, des Dorfes und der Schule zu sein. Ich wurde zum Insulaner, der Räume fand, in denen relatives Glück möglich war.
Der Wald war eine meiner Inseln; ich fühlte mich wohl und konnte nichts anderes tun, als mich zu bewegen und mein Sein in dieser Zeit und an jenem Ort zu lieben. Sobald ich den Wald betrat, wurde ich absichtslos in meiner Orientierung. Ich wollte nichts jagen und keinen Nutzen haben. Einfach nur dort sein, da sein. Das ist Einfachheit in seinem puristischen Sinn.
Vielleicht fällt es mir deswegen so leicht, meditieren und tanzen zu können. Weil ich in Liebe sein kann, gelingt es mir immer wieder, einen Zugang zur Liebe zu bekommen. Selbst dann, wenn die Umstände nicht so einfach sind. Vielleicht bin ich nicht anachronistisch, sondern nur dechronistisch. Aber sobald ich wirklich aus der Zeit falle, gibt es kein Ich mehr. Wenn ich ehrlich bin, und das sollte ich, kenne ich beide Welten. Die Welt des Chronos. Und die andere Welt; jedenfalls ahne ich einen Hauch von ihr.
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Hoher Meissner 2014
IM WALD DER FRAU HOLLE
Grafschaft 1969
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