Einen Schlüssel im Schloß umdrehen, heimlich und leise, nicht so leise, wie es geht, sondern so leise, wie es notwendig ist, ohne zu wissen, wie leise das sein muß, auf jeden Fall leiser, als daß es von weitem hörbar ist, eigentlich so leise, daß die unsichtbare Bewegung, die Intention und der Moment des Ausbrechens, der spürbare Widerstand, wenn die Mechanik anfängt zu greifen und einen Ton verursacht, einen unüberhörbaren, eigentlich, einen gefühlten, der sich vorangearbeitet hat, mit seinem Malmen, das ein ganzes Haus in seiner Struktur für immer verändern wird.
Doch die Gefängniswärter haben den richtigen Moment verpaßt, jedenfalls der Oberaufseher, der zu erschöpft war, der seinen Schlaf brauchte, der dachte, er hätte alles getan, genügend Angst und Struktur geschaffen, um den Ausbruch zu verhindern. Es war seine Physis, die ihn um die Früchte seiner langen Arbeit brachte, und seine Flucht in die Illusionen, es reiche aus, Tyrann zu sein, sein Vertrauen in ein Konzept, das vieltausendfach nicht versagt hatte. All das, was wirklich wichtig war, hatte er unterschätzt; er war nicht einmal in der Lage, das Potential, das dem jüngsten Insassen seines Gefängnis innewohnte, annähernd zu orten, geschweige denn, sich die Dimension seiner unendlichen Kräfte vorzustellen, die noch im Begriff waren, zu wachsen und Form anzunehmen, je nach Notwendigkeit der Aufgabe.
1
Es waren Wochen vergangen, nachdem der Wunsch geboren war, aus dem Gefängnis auszubrechen. Ein Impuls sagte dem Insassen, daß es draußen, irgendwo da draußen einen Schatz gab, für den es sich lohnen würde, alles andere aufs Spiel zu setzen. Der Insasse war ich, der Gefängniswächter war mein Vater. Mit acht Jahren noch Mittagsschlaf machen zu müssen, das war zuviel verlangt, und das, was einen guten Ausbrecher ausmachen würde, hatte der Vater in seinem Eifer übersehen. Er hatte die Spirale der Gewalt in eine Schlinge verändert, die er zu sehr anzog, so daß die natürlichen Impulse wirksam werden konnten. Der einfachste Wunsch war der umfassendste. Nur die Absicht, frei sein zu wollen, veränderte mein Leben für immer. Was ich nicht wissen konnte.
Ich hatte einen imaginierten Freund, der mich mochte und der mein ständiger Begleiter war. Irgendwann – es war zu der Zeit, als ich schon gut auf den eigenen Beinen war und meine Freunde, die Bäume, aus eigenem Antrieb erreichen konnte – flüsterte er mir ins Ohr, daß ich doch einen Baum umarmen solle – und gab mir den Hinweis, darauf zu achten, was mit mir passieren würde. Während der Vater seinen Gedanken nachging, flocht meine Mutter aus Halmen ein kleinen Stuhl für Frösche, so daß die beiden nicht bemerkten, wie ich mich aus ihrem Blickfeld entfernte, mich verspielt, halb verlegen, halb erfreut, einer Birke näherte, deren Stamm so schön war in ihrem Aussehen, so weiß und unschuldig, und gleichzeitig mit Narben versehen, genau wie ich, wenn ich es mir richtig überlegte.
„Der Baum ist weiß und stark,“ sagte ich, als ich wieder kam.
„Auch ein Baum hat eine Seele,“ antwortete mein Vater, der so weit abseits stand, daß ich meiner Mutter gefahrlos mein neues Geheimnis ins Ohr flüstern konnte, wissend, daß sie es unbedingt erfahren mußte: „Der Baum gibt Kraft, sehr viel Kraft.“ Und dann schwieg ich, betrachtete den Königsthron und war traurig, daß meine Mutter vergessen hatte, daß sie selbst eine Königin war.
Wenn man ausbrechen will, ist notwendig, sich einen Überblick über die Bedingungen zu verschaffen. Wochenlang war ich Kundschafter in eigener Sache. Wieviel Schlaf benötigt der Vater? Benötigt er ihn immer? Würde es Ausnahmen geben? Wie verläßlich wird sein Schlaf sein? Wie wird er mit außergewöhnlichen Ereignissen umgehen? Als ich genügend Informationen gesammelt hatte, übte ich die Praxis. Das Wichtigste erschien mir das Umdrehen des Schlüssels zu sein. Also probte ich, während der Herr des Hauses mit anderen Aufgaben beschäftigt war, wie zum Beispiel anderen Frauen die Augen zu verdrehen, während er ihnen die Haare schnitt und sie dann drehte, in Lockenwickler, zur Dauerwelle oder mit dem Onduliereisen.
Als meine Arbeit getan war, konnte ich mich endlich um das Pirschen kümmern, und lief tagelang wie ein Indianer durch das Haus, schlich mich durch den Wald, Schritt für Schritt, und wunderte mich, warum die Indianer Meister des unhörbaren Schrittes waren, kam zwar nicht auf die Idee, meine Schuhe auszuziehen, entdeckte aber das Phänomen, daß sich ein Geräusch im Raum verringert, je weiter das Ohr vom Klang entfernt war, es sei denn, das Ohr würde genau fokussieren, also der Mensch, sein Bewußtsein, das mit dem Ohr verbunden war.
2
In dem Moment, als ich wußte, daß mein Vater keine Kraft mehr hatte, zufällige leise Geräusche zu orten, stellte ich mir einen Wattepfropfen vor, den ich teilte, und je einen in das linke Ohr und in das rechte Ohr Vaters stopfte, zärtlich, und bedacht, und lächelnd. Dann zog ich mich an, wurde zum Indianer, drehte langsam den Schlüssel um und befand mich in der Freiheit. Die Mittagsluft tat gut, vor allem deswegen, weil ich seit Jahren von ihr getrennt war. So atmete ich tief ein, sieben Mal ein, und sieben Mal aus, und machte mich daran, meinem Wunsch nachzugehen.
Irgendwo in Mutter Erde war ein Schatz vergraben, und ich wußte, es lag nur an mir, ihn zu heben. Viel Arbeit lag vor mir, und als eine gute halbe Stunde vergangen war, wußte ich, daß ich es nicht schaffen würde, auch wenn ich dem Impuls gefolgt war, der mir bedeutete, daß genau an dieser Stelle die Arbeit getan werden müsse. Nun fühlte ich eine neue Herausforderung, denn am liebsten hätte ich die Arbeit später fortgesetzt, doch da kam mein Freund, der unsichtbare, zu mir und klärte mich über den Gefängnisaufseher weiter auf.
3
„Er mag ja auf bestimmte Weise einfältig sein, dein Herr Papa,“ sagte mein Luchs, den ich nunmehr in seiner Gestalt erkennen konnte, „doch dumm ist er nicht, auch wenn er das Große Geheimnis nicht kennt. Kehrst du jetzt nicht freiwillig in das Gefängnis zurück, so wird er dem vielerlei entnehmen können. Läßt du die Spuren deiner Schatzsuche sichtbar liegen, so wird er erkennen, daß du nicht nur ein erfolgreicher Ausbrecher bist, sondern daß du alle Voraussetzungen erfüllst, um ein guter Einbrecher zu werden.“
So verwischte ich alle Spuren, so gut ich es konnte, behielt etliche Eimer Muttererde übrig, die ich achtsam unter einer Buchenhecke verteilte und stellte mir dabei die Frage, wie Menschen zum Mittelpunkt der Erde reisen können, wenn es mir schon schwerfiel, ein Loch auszuheben, das nicht einmal einen Meter tief in die Erde reichte und sich selbst immer wieder zu schüttet.
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Die Schöpfung und die Vertreibung aus dem Paradies Giovanni di Paolo | 1403 – 1482 | Siena Frührenaissance
Gefunden: Wikipedia, CommonSense
Museum: Metropolitan Museum of Art, New York